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Systemische Kritik an Standarddiagnose – Tagungsnotizen

kapinnow

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Heilpraktiker
Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?
Diagnosen in Systemischer Theorie und Praxis
Tagung vom 25. - 27. Mai 2017 in der Stadthalle Heidelberg, Veranstalter: Carl-Auer Akademie
Ein Projekt von: Tom Levold, Hans Lieb, Matthias Ohler, Wilhelm Rotthaus & Bernhard Trenkle

Wittgensteins Tractatus beginnt mit „Die Welt ist alles, was der Fall ist“. Also ist auch mein Bericht über diese Tagung alles, was der Fall ist. Was aber ist der Fall auf dieser Tagung mit häufig zehn parallelen Sitzungen, mit ungefähr 600 Teilnehmern, davon fast 100 Referenten, davon grad ein Drittel Frauen? Es ist der Fall eines Beobachters, der an den gut einem Drittel an Begrüßungen, Hauptvorträgen und Panels teilgenommen hat, der seine ganz persönliche Auswahl der übrigen 12 Stunden Workshops und Panels erst auf der Tagung selbst getroffen hat. Systemisch betrachtet ist es der Fall eines Individuums mit geringen Bindungen an die anderen Teilnehmer und starken Bindungen in andere Systeme der Therapie und Ausbildung, eines Individuums, welches sich leidenschaftliche Kontroversen und neue Impulse zum Thema Diagnosen erhoffte. Es ist der Fall eines in naturwissenschaftlichen, softwaretechnischen und therapeutischen Systemen sozialisierten Menschen. Ein Einzelfall – keinesfalls repräsentativ, ausgewogen oder gar abgestimmt.

Wittgenstein hätte ambivalent sein dürfen, falls er diese Tagung hätte besuchen können. Gern und häufig fiel sein Name. Offenbar ein Zeichen großer Wertschätzung. Zugleich wäre dem Mann, der empfahl nur genau ein Bild im Museum anzuschauen, die Breite des Angebots vielleicht doch zu viel des Guten gewesen. Dabei führten fast alle Sitzungen die passenden Worte im Titel und haben das Thema wohl auch getroffen. Dann aber berichteten manche schon auf dem Weg nach draußen, dass es doch eine sehr große Menge an Informationen sei, die man da zur Diagnose des Zustands der systemischen Therapie vorgelegt bekommen hatte.

So wie es eben auf die Wirkung und nicht die Absicht ankommt, erscheint es interessant die Wortwurzeln zu ergründen. Dia Gnosis – durch (was auch immer) Erkenntnis (zu erlangen) – wird vermutlich Bestand haben, denn wohl kaum einer glaubt ernstlich, dass es gelingen wird, die etablierten Diagnosesysteme (da haben wir eine hübsche Verbindung zum systemischen Ansatz) stürzen zu können. Ihr Nutzen wurde auf dieser Tagung klar zu Ausdruck gebracht, ihre Risiken aber auch, und deshalb kann es nur darum gehen, den Umgang mit Diagnosen ganz im Sinne aller Betroffenen (im System) zu verbessern.

Erkenntnistheoretisch hungrig und mit persönlichen Erinnerungen an die streitbaren Podiumsdiskussionen mit Anheizer Paul Feyerabend – „Wider den Methodenzwang“ – hatte ich auf einen lebhaften Austausch, auf Meinungsvielfalt und einfach einen spannungsgeladenen Event gefreut. Da hätte ich besser über die Sozialisation der Teilnehmer nachdenken müssen, die ja – mit wenigen Ausnahmen – eher für den Ausgleich von Interessen und Empathie stehen als für den Streit um Extrempositionen. Gleichwohl gab es einigen Widerspruch, der sich im Laufe der Zeit im Auditorium aufstaute und sich dann in der Abschlussveranstaltung nach und zu dem Abschlussvortrag von Otto F. Kernberg – natürlich dosiert – entlud. Wunderbar, dass das alles aufgezeichnet wurde und nun im Detail auf DVD nachzuverfolgen ist. Wittgenstein hätte sich gefreut zu erleben, wie ich mir immer und immer wieder die Stelle anschaue, wo es um die Fragen der Dominanz älterer Männer auf dieser Tagung geht. Nun Wittgenstein, magst ruhig sein.

Dazu trat ein aufschlussreicher Kontrapunkt, als nämlich Reinert Hanswille über die anstehende Novellierung des Psychotherapeutengesetzes sprach (zwar weniger willkommen zur Verkürzung der Mittagspause weshalb nur von einer Minderheit besucht, aber doch kurzweilig und aktivierend). Fazit: In Zukunft werden vermutlich mehr junge Frauen das Berufsbild prägen, und es ist mit einer weiteren Einverleibung der Psychotherapie in die Medizin auszugehen (zumindest mit Blick auf die Ausbildung). In wieweit die zunehmende Evidenzbasierung und dazu gewünschte Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen eine Anerkennung der systemischen Therapie (und falls ja, welcher Richtung) zeitgleich begünstigen oder verhindern kann, hat – gefühlt – zu dem mehrfach auf der Tagung gehörten „Wenn es jetzt nicht gelingt, gibt es in zehn Jahren keine systemische Therapie mehr!“ geführt.

In jedem Fall hat es die systemische Therapie geschafft, die übrigen Therapieformen vielfach zu umgarnen und – abrechnungstechnisch – zu unterwandern. Dies muss wohl so sein, denn laut Fritz B. Simon gilt: „Alles was hilft, ist systemisch.“ Da braucht es nicht einmal die Wunderfrage für die systemische Therapie, denn nach Ulrike Borst sind bis zu 40 Prozent des Heilerfolgs äußeren Wirkfaktoren zuzuschreiben. Oder, frei nach Gunther Schmidt könnten man schreiben: Die so genannten Symptome und andere Probleme können auch als kompetente Versuche inklusive beziehungsgestaltender Maßnahmen zur Lösung von Zielkonflikten gesehen werden, anstatt sie als Störung oder Krankheit zu bewerten.

Zugleich waren die Kritiker des systemischen Ansatzes auf der Tagung präsent. Im Rahmen eines der Workshops hörte ich dazu: „… und zehn Jahre später habe ich diese Patienten dann in meiner Klinik – zur tiefenpsychologischen Behandlung.“ Alte Gräben. Da mangelt es schon am Selbstverständlichsten. Wenn nämlich einer wiedermal einen Schnupfen hat, gilt er nicht unbedingt als Rückfall. Anders bei einer Depression. Da stellt sich beim Rezidiv sofort der Verdacht nach einer unwirksamen Therapie ein. Wer hat‘s gesagt? Vielleicht Manfred Lütz, der uns zu einer viel zu frühen Stunde für eine Stunde einen witzig-geistvollen Start in den Tag bescherte. Danke für die Aktivierung.

Überhaut der Start in den Tag. Gemeinsam zu summen oder einen pseudoafrikanischen Singsang mit Matthias Ohler anzustimmen, ist definitiv eine sehr gesunde und angenehme Einstimmung auf einen inhaltsreichen Tag, zumal mit sechshundertfacher Verstärkung.

Die Geschichte beginnt inhaltlich – mit Geschichte. Tom Levold hatte es übernommen, uns durch fremde Kulturen und Jahrhunderte zu führen, um ein gemeinsames Verständnis in einem passenden Kontext zu begründen. Man durfte sich abgeholt fühlen. Man wurde erinnert an die (unrühmliche) Geschichte von DSM und ICD, den Einfluss von Macht und Geld, die Problematik der Diagnose-Label sowie deren Nutzen (zur Beruhigung der Verwandten) und Nebenwirkungen (als Stigma). Und man strömte erst einmal ins Freie, die Sonne zu genießen und man begann Gespräche mit alten Bekannten oder neuen Unbekannten zu führen. Da konnte man noch mal durchdeklinieren, was man (Paul Feyerabend meinte stets: In der Regel steht „man“ für „manche“!) sonst noch alles nicht nicht kann. Für mich eine willkommene Gelegenheit zu einem ersten Post in einem der bekannteren sozialen Netze. Die Welt soll erfahren, was wir hier so tun.

Vorfreude auf Impulsvorträge und Diskussion: „Pro & Contra Diagnosen – Pointierte Positionen“ von Jürgen Kriz, Peter Fiedler & Michael B. Buchholz (in der Reihenfolge ihrer Impulsvorträge) moderiert von Hans Lieb. Das hätte ein kraftvoller Auftakt sein sollen und die unterschiedlichen Positionen hätten es durchaus hergegeben (vom Subjektivismus in der individuellen Deutung von Diagnosen durch die Patienten als Kontrapunkt zur kategorialen Pharmaforschung, über den Lob des DSM-5 als bestes Lehrbuch psychischer Störungen, bis zum Scheinobjektivismus gemessener Antwortzeiten und der Analyse von Sprachfiguren). Allein, es war vielleicht zu früh und es gab von Allen zu viel zu sagen.

Die Diskussion mit dem Publikum hätte vielleicht mehr erbracht. Hätte, hätte, fette Klette. So blieb nur ein kurzes aber sehr nettes Nachgespräch mit Hans Lieb zur Frage einer Ausbildung ohne Diagnosen – allerdings ohne wirkliche Lösung aus meiner Sicht als Lehrer für psychotherapeutische Heilpraktiker. Sonst ist mir vom Vormittag vor allem diese systemische Gegenübertragungs-Deutung in Erinnerung geblieben: „Die Diagnose narzisstische Persönlichkeitsstörung wird meist vergeben, wenn Therapeuten ihre Patienten nicht mögen.“ Schade.

Schade? Mittagspause! Gelegenheit, weitere Unbekannten an den leuchtend gelben Tagungsbeuteln in den Restaurants Heidelbergs zu erkennen und sich wechselseitig bekannt zu machen. Schade nur, dass die 90 Minuten der Mittagspause für manche nicht reichten, um tatsächlich das Bestellte serviert zu bekommen, so dass die zwei jüngere Frauen und ein Mann (allesamt am Beginn Ihres Schaffens im Bereich Kinder- und Jugendbereich) noch schnell zur Bäckerei mussten, um überhaupt etwas satt zu werden. Konnte das symbolisch für die Tagung stehen? Zunächst schien es so, denn zur Fallbesprechung „Persönlichkeitsstörungen“ kam ich - typisch für meinen Fall – zu spät und wurde mangels freier Plätze und vorheriger Reservierung – nochmal typisch für meinen Fall – abgewiesen.

Also Plan B, ab zum Schiff wo der Vortrag „Lösungsorientierte Diagnostik“ von Joachim Hesse schon begonnen hatte. Da war nun zugesperrt, so dass ich mit einer weiteren Kollegin erst einmal über Taue und andere Hindernisse zum Eingang gegenüber klettern musste, um von dort eingelassen zu werden. Diese Lösung hatten wir gefunden – immerhin. Das hat sich zumal sehr gelohnt, da nach einigen bekannten Praktiken eine Variante der Skalenfragen vorgestellt wurde, welche die Diagnostik eines Falls tatsächlich sehr wirkungsvoll ergänzen kann.

Wo, wie ich aus meiner Praxis weiß, die Kraft des Nicht-Wissens den Raum für Lösungsmöglichkeiten weitet, kann auch Platz für das Erfassen von Diagnose-Items mittels Skalenfragen sein: „Auf einer Skala von 0 bis 10, wie stark trifft das für Sie zu?“ Das, allein, machen viele Diagnosebögen auch (mit ggf. etwas gröberen Skalen). Spannender ist dann schon die Nachfrage: „In welcher Situation?“ Wir wissen, es kommt auf den Kontext an. Dann aber wird vertieft mit der nächsten Skalenfrage: „Wie stark ist Ihr Wunsch – auf einer Skala von 0 bis 10 – das zu verändern?“ und weiter: „Wie schwer ist das für Sie (wieder auf einer Skala von 0 bis 10)?“ oder wenn es zunächst nur darum geht, ein weiteres Abrutschen zu vermeiden: „Wie sicher ist es, dass Sie dies aushalten können?“

Die letztgenannte Frage verortet Diagnosen im Spannungsfeld von Sicherheit und Bedrohung zwischen vorurteilsfreier, wert- und zielfreier Beobachtung zweiter Ordnung und urteilender, wertender, zielgerichteter Interpretation. Für mich bestätigendes Ergebnis dieses Workshops, der doch mehr Vortrag war: „Löse Dich von den Diagnosen mittels lösungsorientierter Diagnostik und unterwerfe Dich nicht den vorgebrachten oder früher zugeschriebenen Diagnosen.“ Da kam mir gleich wieder das Gespräch mit Hans Lieb in den Sinn und seine auch von anderen geäußerte Empfehlung für Patienten, verletzende und widersprüchliche Diagnosen durchaus an die Diagnostiker zurückzugeben (symbolisch und rituell – ggf. sogar persönlich, wenn das geht).

Weitere Anwendungen von Multiskalen-Fragen folgten, und sollten doch nur als ein mögliches Instrument zur Chancenerhöhung für Drehs (also Veränderungen) aufgefasst werden (eine weitere hübsche „Entschlüsselung“ von ICD). Währenddessen klang in mir noch etwas von Rilke nach – etwas mit „grenzen und grüßen“. Ich hab’s inzwischen nachgeschaut und vermute, dieser wundervolle Absatz aus einem Brief an Franz Xaver Kappus war gemeint: „Dieser Fortschritt wird das Liebe-Erleben, das jetzt voll Irrung ist (sehr gegen den Willen der überholten Männer zunächst), verwandeln, von Grund aus verändern, zu einer Beziehung umbilden, die von Mensch zu Mensch gemeint ist, nicht mehr von Mann zu Weib. Und diese menschlichere Liebe (die unendlich rücksichtsvoll und leise, und gut und klar in Binden und Lösen sich vollziehen wird) wird jener ähneln, die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe, die darin besteht, daß zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen.“

Pause – Wasser nicht vergessen – und wieder hungrig auf ein vielseitiges Panel, diesmal aus dem systemischen Blickwinkel: „Die Expertise des Nicht Wissens: Wie viel Hintergrund braucht man zu Diagnosen als Systemiker“ moderiert von Rudolf Klein. Spannend schon die Einleitung von Klaus Deissler mit seiner Darstellung einer Weisheit Bolivianischer Indianer: „Die Zukunft liegt hinter mir.“ Ein hintersinniger Spruch, der von ihm auf der Bühne einfach durch Rückwärtsgehen umgesetzt wurde, und der offenbar viel mit Nicht-Wissen zu tun hat. Alsdann entfaltete er ein dreidimensionales Modell zur systemischen Positionierung. Die Achsen:
  • distanziert >> berührt
  • nicht-wissend >> wissend
  • monologisch >> dialogisch
Man kann wählen, wo man sich als Experte oder Therapeut in diesem Koordinatensystem positionieren möchte. Mir hat das ausgezeichnet gefallen, wenngleich ich da unvermittelt an Fritz Riemanns „Grundformen der Angst“ denken musste, um sogleich im Geiste die dritte Achse durch
  • andauernd >> veränderlich
zu ersetzen. Damit (da kommt der Physiker in mir zum Zug) hätten wir die drei wesentlichen Dimensionen Raum, Energie (bzw. Information) und Zeit zusammen.

Noch während ich diesen Gedanken nachhing, ging es schon weiter mit Lothar Eders Ausführungen zur systemischen Diagnostik aus Sicht der Vertragspsychotherapie. Wichtig: der Kontext, nämlich die ca. eine Millionen Patienten in Deutschland, die einen Anspruch auf Heilbehandlung haben und dafür eine Diagnose brauchen. Man beachte die jüngsten Änderungen zur Psychotherapierichtlinie: Sprechstunden zur Feststellung behandlungsbedürftiger Erkrankungen – in 25 Minuten. Es geht auch ums Geld!

Kaum kapiert, schon kommen die nächsten Ideen – diesmal von Günther Emlein mit scharfsinnigem, nicht nur Wittgensteinschem, Sprachsinn vorgetragen. Der Fall ist schon verschwunden, wenn er beschrieben, die Diagnose schon veraltet, wenn sie gefunden wurde. Was also steckt dahinter? Nichts! Und wäre ich ein vom Lebensgleis Gefallener, so könnte ich doch etwas Neues probieren und würde mit jeder Frage (und Antwort) ein Anderer, der etwas über sich lernte.

Gerettet – oder doch nicht? Interessante Fragen ergaben sich aus dem Impulsreferat von Roland Schleiffer: Wo bleibt das Recht auf Nicht-Wissen bei dem insgesamt starken Trend zur Präzisionspsychiatrie? Förderschule, Inklusion: Sage ich meinem Kind, dass es nicht so schlau ist oder betrachte ich seine Lernstörung einfach als Explorationsvermeidung? Da könnte man an Goethe denken: „O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen! Was man nicht weiß, das eben brauchte man, und was man weiß, kann man nicht brauchen."

Nicht 25 sondern 45 Minuten bis zum Abendvortrag. Zu viel, einfach abzuwarten, zu wenig fürs Abendessen. Ein willkommene Gelegenheit, die unterschiedlichen Bücherstände zu besuchen, zu stöbern, und sich dabei mit anderen Teilnehmern auszutauschen. Am nächsten Tag werde ich eins der Bücher gekauft haben. Welches, wird hier nicht verraten. Nur so viel: Es betrifft meinen Schwerpunkt Traumatherapie. Wer raten mag: Es geht um vier Methoden, die sich einig sind, dass die Behandlung von Kindern und Jugendlichen systemisch – mit Einbeziehen der wichtigsten Bezugspersonen – und neurobiologisch gegenwartsorientiert sein muss.

Endlich, der Hauptvortrag von Ulrike Borst, 1. Vorsitzende der Systemischen Gesellschaft zu „Diagnosen und Diagnostik im öffentlichen Diskurs“. Sie wies auf die Schieflage der Mittelzuweisung für leichte und schwer erkrankte Menschen hin und stellte unter Anderem kritische Fragen zur Veröffentlichungspolitik von Antidepressiva-Untersuchungen. Sehr anschaulich, sehr politisch und sehr kämpferisch für systemische Lösungen.

Danach: Endlich allein, Abendessen, Runterfahren, Eindrücke verarbeiten. Dabei half die halbe Stunde Fußweg zum Schlafplatz: Couch-Surfing, noch eine neue Erfahrung. Dito am nächsten Morgen. Frühstück bei Früh. Jürgen Kriz an der Ampel getroffen. Freude. Kurzes Gespräch auf dem Weg. Dann Ouvertüre mit Gesang, und in bester Laune Fritz B. Simon gelauscht: „Wozu Diagnosen? Chancen und Risiken ihres Gebrauchs und ihrer Vermeidung“. Charisma, Lebenserfahrung. Den Vortrag habe ich innerlich gefeiert und am Ende der Tagung mehrfach als Geschenk besorgt.

Was hat mir an seinem Vortrag so gefallen? Fritz B. Simons systematische Auseinandersetzung mit Diagnose-Konstruktion und -Dekonstruktion (hier leicht modifiziert nach meinem Verständnis):
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Anschließend, Zeit für einen kurzen Spaziergang und einen ersten kurzen Post des Tages im sozialen Netz der Wahl. Dann ging es weiter mit einem Thema, dass ich schon längere Zeit besser verstehen wollte (und hier gar nicht unbedingt erwartet hätte): „Operationale Psychodynamische Diagnostik.“ (OPD) und wieder auf dem Schiff, wie schön. Henning Schauenburg führte sehr transparent in das Thema ein. Ein kurzer Video-Ausschnitt und zwei Handouts halfen dabei. Allerdings hätte ich mir weitere Hinweise zur Nutzung der OPD in der Therapieplanung und -durchführung gewünscht, die über ein Erkennen von Störungselementen auf der Erlebnis-, Beziehungs-, Konflikt- und Strukturachse der OPD hinausgegangen wäre und auch die (systemischen) Dimensionen der Gegenübertragung ausgeleuchtet hätte.

Die Viertelstunde Pause bis zur Infoveranstaltung von Reinert Hanswille „… zum Stand der Verhandlungen bzgl. Direktausbildung Psychotherapie“ reichten immerhin für ein wunderbar erfrischendes Eis. Überraschend, dass ich dort von einem Mitarbeiter des Marketingteams auf meine ersten Posts angesprochen und zur Fortsetzung ermuntert wurde. Trotz knapper Pausenzeiten reichte die Mittagspause für einen weiteren Austausch mit anderen, die ebenso fanden, dass es hier doch sehr viel interessante Information aufzunehmen gab – mehr als wir uns sonst im Alltagsleben zumuten würden. Wir wurden also doch noch satt.

Anschließend entschloss ich mich wieder für ein Panel. Eigentlich wollte ich versuchen, rechtzeitig zur „Abschaffung von DSM & ICD“ mit Eugene Epstein, Peter Fiedler und dem Moderator Tom Levold da zu sein, und war doch, wie üblich zu spät. Die Folge war wieder ein gelungener Plan B: „Historische Entwicklung von Therapieverfahren im Kontext des Gesundheitswesen“ mit Heiner Keupp, Christa Leiendecker und Rudi Merod, moderiert von Wilhelm Rotthaus. Am Eingang bekam ich das Thesenpaper von Rudi Merod in die Hand gedrückt. Sein Fazit: „Medizinalisierung der Psychotherapie – Individuelles „Anders-sein“ wird zur „Diagnose“ und damit pathologisiert.“ Das passte sehr zur zunehmenden Medizinalisierung, von der Reinert Hanswille gerade gesprochen hatte. Anknüpfungspunkte all überall. Ich beschloss, die Zeit zu nutzen, um, anstatt wie üblich mitzuschreiben, diesmal parallel an dem Kunstprojekt „The Art of Inclusion" von Gee Vero zu arbeiten und zu schauen, was die Diskussion auf dem Podium und mit dem Publikum in mir zeichnerisch hervorbringen würden. Wenn ich das Bild heute betrachte, sehe ich wie sich das vorgegebene Halbgesicht nach links immer weiter auflöst in eine surreale Welt von angedeuteten Medikamentenkapseln, Massenfriedhöfen, Strichmännchen, Herzchen und Blümchen, fremdartig anmutenden Schriftzeichenketten, Tabellen, €-Zeichen, Uhren, Mauern, Wolken, Blitze und viele verwirrende Linien. Da ist ein seltsam segmentierter Ballon an einem Band, Bälle in denen Vampirzähne stecken, eine dunkle Mundhöhle mit vielen Zahnreihen usw. Auch eine Skala, welche sich aus dem zunehmend krakeliger und unleserlicher werdenden Schriftzug „DIAGn“, einer skizzierten Nase, sowie einem nachfolgenden „e“ entwickelt und mit 10, 15, 20 beschriftet ist, sowie ein Genogrammfragment mit Therapeutin und Verbindung zur KV sind da – und ein Satz: „Der unmarkierte Raum ist markiert und offen.“

Der Tag versprach lang und intensiv zu werden. Wieder 30 Minuten Pause, wieder interessante Gespräche. Einfach mal etwas langer einem Gespräch beizuwohnen und dann vielleicht selbst eine Kleinigkeit beizutragen, kann das Verständnis sehr vertiefen. Das war für mich zugleich ein gelungener Auftakt für den nachfolgenden Workshop „Vielfalt und Entscheidung – ein systemisches Reflexionsmodell“, in dem dann tatsächlich gemeinsam gearbeitet wurde. Offenbar war das gemeint als praktische Alternative zur theoretischen Analyse der Frage, was denn der Fall sei?

Sehr authentisch ermunterte Johannes Herwig-Lempp anfangs, dass man sich die Freiheit nehmen dürfe, jederzeit den Workshop zu verlassen. Auch für mich gab es einen bewussten Zeitpunkt der Entscheidung, denn während dem einführenden Theorieteil war vermutlich vielen unklar, wohin uns das alles führen würde, oder eben manchen sehr klar, dass es für sie zu keinen neuen Erkenntnissen oder Erfahrungen kommen würde. Als es dann allerdings ins praktische Arbeiten gehen sollte, sagte ich mir, dass nun in dem reduzierten aber immer noch recht großen Kreis etwas Interessantes zu erleben wäre, und das hat sich – zumindest für mich – auch bestätigt. Die sozialpädagogische Perspektive von „Deuten – Hypothetisieren – Planen zu Handeln“ wurde anhand eines in wenigen Sätzen geschilderten Fallbeispiels in Gruppen nach unterschiedlichen Aspekten (Beteiligte, Ressourcen, Auftrag, etc.) unter dem Gesichtspunkt kollegialer Beratung (Supervision) untersucht. Das Herausarbeiten von Benanntem vs. Möglichem bzw. Tatsächlichem vs. Vermuteten entwickelte eine große Kraft und scheint nach Aussage des Kollegen aus dem Bereich der aufsuchenden Familienhilfe auch einige neue Aspekte hervorgebracht zu haben, die später zu überprüfen sein werden.

Abends fand das Tagungsfest statt, laut mancher Stimmen mit fabelhafter Live-Musik. Mir war es nun genug und da ich eine Verabredung mit einer Bekannten für das Abendessen hatte, konnte ich wieder etwas an mein Leben anknüpfen, was mir sehr gut getan hat. Bummeln durch die Heidelberger Altstadt, Essen auf dem studentischen Campus, gemütliche 30 Minuten zur Schlafstätte spazieren. Ein wunderbarer Ausklang des Tages für mich.

Anderntags dann sehr früh aufgestanden, um die Lachnummer des Tages nicht zu verpassen, Im Laufen gefrühstückt. Tatsächlich pünktlich um 8.00 begann der Hauptvortrag von Manfred Lütz: „Irre – Wir behandeln die Falschen – Unser Problem sind die Normalen“ und der erzählte erst einmal, dass er nie zu so früher Stunde gekommen wäre – als Zuhörer. Kabarett vom Feinsten mit allen möglichen und unmöglichen Bezügen zu unserem Thema. Sehr kurzweilig und erfrischend – aber in der Rückschau doch leider ohne Impulse für den Alltag, wie sie andere Sitzungen erbracht haben – außer vielleicht dieser: mehr zu lachen, mehr Humor zu entwickeln!

Nur noch 15 Minuten, dann der letzte Workshop: „Wie geht man psychotherapeutisch vor, wenn man nicht nach Diagnosen vorgeht – das Bonner Ressourcen Modell“ von Anne M. Lang. Es war nach einiger Theorie zur Lösungsorientierung vor allem die Demonstration, die sehr anregend war. Eifrig mitgeschrieben, konnte ich die schönen Folien und das Fallbeispiel inzwischen sehr gut für meine Ausbildungsgruppe nutzen. Die Verbindung sprachlicher Kompetenz mit den Mitteln der Gesprächspsychotherapie, der Lösungsorientierung und mit einem klaren systemischen Blick war faszinierend, und auch etwas analytischen Widerstand und dessen Überwindung konnten man sehr schön verfolgen. Für mich ein persönliches Highlight.

Dann folgte gewissermaßen der Absturz. Nachdem ich mich von meinen sonst üblichen Randplätzen nun symbolisch inmitten des Publikums platziert hatte, weil ich endlich angekommen war, freute ich mich auf Otto F. Kernberg und sein „Strukturiertes Interview als diagnostische Methode für Persönlichkeitsstörungen“. Allerdings war das dann doch stellenweise sehr konventionell und es führte meines Erachtens mit Recht zu kritischen Nachfragen.

Die schriftliche Eingabe konnte teilweise nicht entziffert werden. Es ging offenbar um die Abgrenzung Borderline zur komplexen Traumafolgestörung, um die Bedeutung persönlichkeitsgestört vs. überlebend, um das patriarchalische Konzepte von Borderline während zugleich viele Betroffenen sexuell traumatisiert und weiblich seien und durch Folgeschäden abgewertet würden. Sehr aussagekräftig auch die Szene, wie der Aufschrieb an Otto F. Kernberg vorbei zur Entzifferung von Kollege zu Kollege durchgereicht wird. Auf der DVD kann man das immer wieder in Wittgensteinscher Manie nachbetrachten.

Otto F. Kernberg kam in seiner Antwort nach einer Exkursion über Posttraumatische Belastungsstörungen im zeitlichen Kontrast zu Persönlichkeitsstörungen zurück auf den Begriff der Identitätsdiffusion und zitierte darüber hinaus die statistischen Untersuchungen von Joel Paris, der schon vor Jahren festgestellt hatte, dass bei Borderline-Patienten sexueller Missbrauch wesentlich häufiger vorliegt als bei allen anderen Persönlichkeitsstörungen. Andererseits sei zu beachten, dass – zumindest in Amerika – sich ein patriarchaler Mythos gebildet habe und immer genau zu untersuchen sei, ob tatsächlich eine Missbrauchserfahrung im Hintergrund vorliege.

Dann die Rückmeldungen des Publikums zur Tagung als Ganzes. Auch da waren einige interessante körpersprachliche und verbale Besonderheiten zu beobachten. Ich frage mich immer noch, ob das nicht anders hätte ablaufen sollen oder können und was wohl passiert wäre, wenn – im Sinne der gewaltfreien Kommunikation – mehr Giraffensprache gesprochen worden wäre. In manchen Firmen werden für solche Events zweckmäßige Feedback-Regeln trainiert.

So eine Tagung nur auf die Präsenztage zu verdichten, wird ihr sicher nicht gerecht. Es gibt die Zeit der Vorbereitung und der Nachbereitung, es gibt so viel Material Dank der Aufnahmen von Auditorium Netzwerk, und nur einen Bruchteil konnte ich bislang konsumieren und reflektieren. Da werde ich in den kommenden Wochen und Monaten noch viel entdecken und vielleicht auch kommentieren können.

Zweieinhalb Tage „Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?“ Antwort: sehr viel, mehr, als man in zweieinhalb Tagen aufnehmen und verarbeiten kann. Was davon wird es in den therapeutischen und pädagogischen Alltag schaffen? Für mich ein vertieftes Verständnis für Diagnosegrüße und -grenzen sowie einige sehr konkrete Ideen für bestimmte Klienten und Auszubildende (sowie für mich ganz persönlich), Ideen, die mir in manchen Tagungsmomenten geistesblitzartig in den Sinn gekommen waren. Dafür bin ich den vielen Menschen sehr dankbar, die diese Tagung initiiert und möglich gemacht, die sie organisiert und gestaltet haben, und denen, die sie durch ihre öffentlichen und privaten Beiträge bereichert haben und das wichtige Thema weiter verfolgen.
 

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Vielen Dank für die leckere, jedoch nicht leichte Kost!

Das muss ich jetzt erst mal verdauen :) Kommentar dazu kommt deshalb später...
 
Vielen Dank, lieber Kai! .... auch für die "Wittgensteinsche Manie" (5. Absatz von unten) ;) - da haben wir gleich mal den Humor-Faktor, den Du ja auch angesprochen hast.....

Lieber Gruß!
 
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